Arbeit an der Himmelsleiter

Gibt es eine Leiter zwischen Himmel und Erde? Wenn ja, könnte sie „The Work“ heissen. Die Amerikanerin Byron Katie gibt die Wegbeschreibung. Von Colette Grünbaum

„Danke, mir geht es blendend“, antwortete ich meinem Nachbarn. „So siehst du auch aus!“, erwiderte er. Im Weitergehen schmunzelte ich, denn es war Nacht. Was sieht man da schon? Tatsächlich geht es mir ausgezeichnet, seit ich mich näher mit „The Work“, einer genialen Art der Selbsterforschung, auseinandersetze. Na ja, sicher ist es nicht nur die Wirkung von The Work. Ich habe diese Arbeit im Urlaub ausprobiert, und die sonnigen Tage in der Toskana waren wunderbar.

Aber darf es einem so gut gehen? Ruft man da nicht den Neid der Götter hervor? „Seit ich The Work entdeckt habe, scheinen sich all meine Probleme versteckt zu haben, ich habe gar nichts mehr zu untersuchen“, hörte ich mich selber mehrfach zu Freunden sagen. Eines Tages fiel mir dann auf, wie ich mit diesem Satz bereits drohende Wolken von düsteren Problemen vorausahne. Die Funktionsweise des Denkens wird durch „die Arbeit“ transparenter.

The Work ist ein Geschenk des Himmels: einfach, praktisch, klar, überall durchführbar und unendlich heilsam. Vor Jahren kaufte ich mir ein dickes Buch über die Arbeit mit dem eigenen Schatten. Ich habe es nie gelesen, und die Schatten haben weiterhin ihr Spiel mit mir getrieben. Wann immer ich The Work mache, zeigen sich die Schatten, und unmissverständlich wird deutlich, wie und wo sie sich manifestieren und was sie bewirken. Knallhart!

Ich empfinde The Work der Kalifornierin Byron Katie auch deshalb als ein Geschenk, weil ich im letzten Jahr immer wieder nach den richtigen Fragen gesucht habe. Fragen, mit denen ich mich nicht noch weiter in die Welt von Meinungen und Ansichten verstricke, sondern der inneren Freiheit näher komme. Ich bin Menschen begegnet, die, soweit ich das einschätzen kann, für sich die Wahrheit gefunden haben. Aber sie konnten mir nur sehr begrenzt Hilfsmittel auf den Weg geben, mit denen ich meine eigenen Antworten finde.

Jetzt habe ich ein Set von Fragen zur Hand, mit denen ich jederzeit untersuchen kann, wer ich bin. Werde ich mit diesen Fragen das Rätsel lösen? The Work wird auch „The great undoing“ genannt: „Die grosse Auflösung“. Was für ein Aussicht!

Eine warme Herbstsonne schien mir bei meinem ersten Selbstversuch auf den Bauch. Ich hatte bisher lediglich einen Artikel über diese Methode gelesen und mir die Arbeitsanleitung herauskopiert. Dann hatte ich aus dem Vollen geschöpft und mir alles vom Leibe geschrieben: Was mich an meinem Partner stört, ärgert, wie er sich meinen Wünschen gemäss ändern sollte, was er nicht mehr tun sollte, was ich von ihm brauche und was ich nie mehr mit ihm erleben will. Ich nahm kein Blatt vor den Mund, war unverblümt und direkt.

Nun folgte die Auflösung, die Untersuchung dieser Sätze mit Hilfe von Byron Katies vier Fragen: 1. Ist es wahr, dass G. nicht nächtelang aufbleiben soll? 2. Kann ich wirklich wissen, dass das wahr ist? Ich schloss die Augen in meinem Liegestuhl, liess die Frage in mein Herz sinken und wartete auf eine Antwort. Nein, in letzter Konsequenz kann ich nicht wissen, was für ihn das Beste ist, das musste ich eingestehen.

Ich las weiter: 3. Was habe ich davon, an dieser Meinung festzuhalten? Wie fühle ich mich damit, und wie behandle ich meinen Partner, wenn ich so denke? Wieder schloss ich die Augen, liess die Frage sinken, wartete. Da dämmerte es mir, ich erkannte, wie ich mich mit meiner Meinung über ihn stellte, schliesslich verhalte i c h mich ja nicht so unvernünftig. Was für eine Überheblichkeit! Und ich sah, wie ich mit meiner Sorge und meinem Ärger Distanz herstellte.

Während ich von meinem Liegestuhl aus beobachtete, wie der Tag in die Nacht überging, entdeckte ich in mir Schatten um Schatten. Sah, wie ich mit meinen Vorstellungen kontrolliere, wie ich mit Erwartungen an der Realität vorbeischaue, wie ich mich immer wieder auf etwas fixiere, was letztlich nicht nur für den anderen unangenehm ist, sondern vor allem mich selbst einschränkt. Die letzte Frage, „Wer wäre ich ohne diesen Gedanken?“, zeigte immer wieder dasselbe Resultat: Ohne diese Überzeugungen würde ich mich viel freier, lichter und leichter fühlen. Bin ich bereit, sie loszulassen?

Byron Katies Fragen demaskieren, sie entschleiern. Jener Nachmittag ist mir als eine schrecklich entlarvende Befreiung in Erinnerung geblieben. Ein Blick in meine Notizen zeigt mir aber, wie sich mein Verstand drehte und wand, wie ich nach Rechtfertigungen suchte, Fragen mit Jein beantwortete und nur ungern das Licht auf die Wahrheit freigab. Die Arbeit der 55-jährigen Katie ist radikal und bedeutet einen Einbruch in unser gewohnheitsmässiges Denken. Wer lässt das schon gerne zu? Manchmal ärgern wir uns ja mit Wonne, geniessen die Intensität unserer Stimmungen und sehen keinen Anlass, eine gut eingeübte Rolle abzulegen. Deshalb ist das A und O für das Gelingen von The Work Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Es braucht die Bereitschaft, Unangenehmes anzuschauen, Mut zur Wahrheit und Beharrlichkeit.

Nach diesem ersten praktischen Einblick in die Arbeit legte ich am nächsten Tag den Kopfhörer um und hörte mir an, wie Byron Katie als Kursleiterin mit einer 18-Jährigen arbeitete, die als Kleinkind sexuell missbraucht worden war. Es fuhr mir in Mark und Glieder: Hier diese Ohnmacht, dieses Schicksal und dort diese lebenserfahrene Frau, die unbeirrt ihre Fragen stellte.

Von Selbstverantwortung wird viel gesprochen. Nie aber habe ich jemanden erlebt, der mit solcher Konsequenz damit umgeht. Die 18-Jährige las ihre eigenen Urteile; Katie bewog sie, diese zu untersuchen und dann noch einen Schritt weiter zu gehen und die Urteile umzukehren. Statt zu sagen: „Nie mehr soll dieses Schwein einen Menschen vergewaltigen und missbrauchen und zwingen, abscheuliche Dinge zu tun“, hiess es dann: „Nie mehr soll ich mich vergewaltigen und missbrauchen und mich zwingen, abscheuliche Dinge zu tun, indem ich immer wieder über diesen Vorfall nachdenke.“ Es wurde deutlich, wie viel wir mitmachen, in der Hoffnung geliebt zu werden.

Nach dieser ersten Kassette war ich ganz erschöpft und betroffen. Was ist Mitgefühl wirklich? Ein Kursteilnehmer sagte Katie, dass er am Vorabend beinahe gegangen wäre. „Ich hatte das Gefühl, dass du dich um Gefühle keinen Deut scherst“, sagte er. „Da hast du recht“, erwiderte sie, „es geht mir nicht um Gefühle, mein eigentliches Anliegen ist die Freiheit.“

„Solange wir keinen Weg gefunden haben, unserem Denken mit Verständnis zu begegnen, ist das Leben die reine Hölle“, weiss Katie aus eigener Erfahrung. Sie war der Macht des Geldes erlegen, rauchte, trank exzessiv und hatte enorme psychische Probleme, bevor sie mit 43 Jahren eines Tages ohne Erinnerung an ihre Geschichte erwachte und alles anders war. Zuerst hielt man sie für verrückt. Langsam fand sie sich wieder in der Welt zurecht, und begann, ihren Mitmenschen dieses wunderbare Werkzeug der Befreiung zu schenken.

„Unbehagen erwächst aus dem Krieg mit dem, was ist. Wenn du nicht glauben kannst, dass alles zum Guten geschieht, schreibe es auf, stelle vier Fragen und kehre deine Sätze um“, empfiehlt Byron Katie. „Wenn der Verstand die Fragen stellt und du dem Herzen erlaubst zu antworten, dann fällt der Verstand ins Herz und sie verschmelzen. Der höchste Akt der Liebe ist es, dem Verstand im Herzen ein Zuhause zu geben.“

„Wie ist diese Frau?“, frage ich Lela Iselin, die schon länger mit The Work vertraut ist und kürzlich ein zweiwöchiges Seminar bei Katie in den USA besucht hatte. „Sie ist liebevoll, klar, direkt, unprätentiös, kreativ und wahnsinnig grosszügig“, erwidert meine Bekannte, die sich mit Psychotechniken und spiritueller Selbsterfahrung bestens auskennt. Sie untermauert ihre Zusammenfassung mit berührenden Kostproben aus dem Seminar. „Was hat sich durch The Work in deinem Leben verändert?“, frage ich weiter. „Ich muss nicht mehr um Liebe und Anerkennung kämpfen. Die Identifikation mit meiner Geschichte ist nicht mehr vorhanden, und wenn eine Identifikation auftaucht, dann ist es spannend, The Work zu machen.“

Lela Iselin, die sich von Byron Katie zur Kursleiterin ausbilden liess, leitet mich an, The Work mit einem kleinen Ärger zu machen, den ich mit meiner Schwiegermutter hatte. Erstaunliches tritt zu Tage. Was wohl herauskommen wird, wenn ich die Arbeit im Zusammenhang mit meinem Widerstand gegen allzu viel Fernseh- und Computerbenützung meines Sohnes mache? Auf Herz und Nieren habe ich The Work noch nicht geprüft! Ob diese Arbeit wirklich eine Himmelsleiter ist, liebe Leserin, lieber Leser, können Sie mit folgender Anleitung selbst prüfen. Die ersten Sprossen haben sich bei meinem Test jedenfalls als stabil erwiesen und mich auf eine Höhe mit guter Aussicht geführt.

Dieser Artikel erschien im Dezember 1999 in der Zeitschrift Spuren.

Nachtrag: 2013 hat The Work noch nichts von seiner Faszination für mich eingebüsst. Ich bin immer wieder berührt und beglückt, wenn ich erlebe, was diese Arbeit bei Menschen, die ich begleite, und auch bei mir selber bewirkt. Mein Sohn hat noch in seiner Ausbildung zum Informatiker meine erste Webseite erstellt. Er hat einen gesunden Umgang mit Computer und Fernsehen und ist glücklicher Vater einer Tochter. The Work ist also tatsächlich eine Himmelsleiter Lächelnd

 

Anleitung zum Glück

Die Urteile

Wähle eine vergangene oder gegenwärtige Situation, die du als ungelöst erlebst. Füll die nachfolgenden Lücken aus. Schreibe das, was dir Stress macht, in Form einer Feststellung auf. Schreibe vorerst noch nicht über dich selbst! Urteile hemmungslos und kleinlich. Sei bitte nicht spirituell oder nett. Jahrelang hat man uns beigebracht, nicht zu urteilen, und trotzdem ist es immer noch das, was wir am besten können. Hab Spass dabei! Gib deinem Problem die Gelegenheit, sich auf dem Papier zu artikulieren. Denke daran, kurze, einfache Sätze zu schreiben.

1. Wen oder was magst du nicht? Wer oder was irritiert dich? Wer oder was macht dich traurig oder enttäuscht dich?

Ich mag …… nicht, weil …… oder Ich bin wütend auf ……, weil …… oder Ich bin traurig über oder enttäuscht von ……, weil ……

2. Wie sollen sie sich ändern? Was willst du von ihnen? Was sollen sie tun?

Ich will, dass … (Name) …… (Zähle auf, was du in dieser Situation willst.)

3. Was genau sollten sie tun oder nicht tun, sein, denken oder fühlen? Welchen Rat hast du für sie?

(Name) … sollte oder sollte nicht ……

4. Brauchst du etwas von ihnen? Was sollen sie dir geben oder für dich tun, damit du glücklich bist?

Ich brauche von (Name) …, dass ……

5. Was denkst du über ihn/sie? Mache eine Liste.

(Name) … ist ……

6. Was willst du mit dieser Person, dieser Sache oder in dieser Situation nie wieder erleben?

Ich will nie wieder erleben, dass …… oder ich weigere mich, jemals wieder zu erleben, dass …… (Liste die Dinge auf, von denen du denkst, dass sie nie wieder geschehen sollten.)

 

Die Untersuchung

An dieser Stelle bist du dazu eingeladen, jede deiner Behauptungen zu untersuchen. Erlaube dem Verstand, die Antworten im Herzen zu finden. Diese Arbeit ist Meditation. Gehe noch einmal zurück zu den Aussagen 1-5 (6 wird später behandelt), und untersuche sie Satz für Satz, indem du vier Fragen stellst.

 

1. Ist das wahr? Sei ganz still und lass dein Herz antworten.

2. Kann ich wirklich wissen, dass das wahr ist? Weiss ich, was letztlich für mich und für andere richtig ist?

Zusatzfrage: Um wessen Angelegenheit handelt es sich?

3. Was habe ich davon, an diesem Gedanken festzuhalten? Wie verhalte/fühle ich mich, wenn ich das denke? a) Sehe ich einen Grund, diesen Gedanken fallenzulassen? b) Kann ich einen Grund finden, an diesem Gedanken festzuhalten, der keinen Stress erzeugt?

4. Wie oder wer wäre ich ohne diesen Gedanken? Sieh dich in der Gegenwart der Person, mit der du Mühe hast, und stelle dir vor, sie ohne deine Urteile zu sehen. Schau hin! Was siehst du? Jetzt stelle dir vor, wie sie von dir misshandelt wird, während du deine Urteile ausagierst. Bis ich diesen Menschen nicht als Freund sehen kann, auch wenn ich sehe, dass er mich nicht versteht, ist meine Arbeit nicht getan.

 

Die Umkehrung

Wenn ein Gedanke auftaucht wie zum Beispiel: „Ich bin wütend auf Paul, weil er mich nicht versteht“, so lautet die Umkehrung: „Ich bin wütend auf mich, weil ich mich nicht verstehe.“ Oder: „Ich bin wütend auf mich, weil ich Paul nicht verstehe (manchmal).“ Möglicherweise findest du mehr als zwei oder drei Umkehrungen. Jede einzelne ist genauso wahr oder vielleicht gar zutreffender als das, was du ursprünglich geschrieben hast. Vor allem, wenn du grosszügig genug bist, dich gedanklich um deinen eigenen Kram zu kümmern.

Zu 6. Jedes mal wenn du denkst: ich will …… nie mehr erleben, sei bereit, es doch wieder zu erleben. Freu dich darüber, denn das gibt dir Gelegenheit, The Work anzuwenden und etwas über dich zu erfahren. Bei Nummer 6 geht es darum, das gesamte Denken und alles Leben zu umarmen. Bevor ich den Feind nicht als Freund sehen kann, ist die Arbeit nicht getan.

 

Information: www.gruenbaum.ch
Colette Grünbaum, Schlosshofstrasse 48, CH-8400 Winterthur,
mobile: 079 743 36 80
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