Mut zum eigenen Ich
Wie man Abhängigkeit erkennen und wieder aus ihr herausfinden kann. Von Colette Grünbaum
Für Liebe und Anerkennung tun Menschen oft alles. Das kann bis zur Selbstaufgabe gehen. Damit wird einer Beziehung aber auch die Lebendigkeit geraubt. Die Familientherapeutin Colette Grünbaum aus Winterthur zeigt, wie man mit der Methode „The Work“ zu seinen Bedürfnissen zurückfinden und sich wieder selbst lieben lernen kann.
Was tun wir nicht alles, um Liebe und Anerkennung von unseren Mitmenschen zu bekommen? Oft ist es uns nicht einmal bewusst, dass die Triebfeder vieler Verhaltensweisen und Handlungen ein Streben nach Liebe ist. Hingegen sind vielen Menschen Gedanken vertraut wie: „Wenn ich mich so zeige, wie ich bin, dann mag man mich nicht mehr.“ Oder: „Wenn ich seinen Anforderungen nicht genüge, lehnt er mich ab.“
Schon früh merkt ein Kind, welche Verhaltensweisen ihm Zuwendung und Liebe bringen und welche auf Missfallen und Zurückweisung stossen. Es beginnt sich danach zu richten, indem es aus Angst vor Ablehnung gewisse Persönlichkeitsanteile unterdrückt und verdrängt. Andere, beliebte Charaktereigenschaften setzt es ein, um liebevolle Aufmerksamkeit zu erhalten. Dies ist ein ganz natürlicher Vorgang. Schwierig wird es, wenn dieses Verhalten im Erwachsenenalter dominiert und ein Mensch sich dadurch selbst immer mehr verliert.
Im Rückblick auf die Kindheit kann es sinnvoll sein, einmal möglichst detailliert aufzulisten, was wir von unseren Eltern gebraucht hätten. Wie hätten sie sich uns gegenüber verhalten sollen, was uns geben sollen? Was hätten wir uns von ihnen gewünscht. Es ist lohnenswert sich auch zu notieren, was wir uns von unserem Partner wünschen oder von sonst einer uns nahestehenden Person, mit der sich das Zusammenleben nicht einfach gestaltet.
Lernen, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen
Wer sein Leben danach ausrichtet, anderen zu gefallen, orientiert sich nicht mehr an seinen eigenen Interessen. Je stärker dieser Mechanismus wirkt, desto höher ist der Preis, den wir dafür bezahlen. Es kostet uns unsere Authentizität, Lebendigkeit, Autonomie und die Selbstliebe. In der Therapie sagen solche Menschen oft: „Ich weiss nicht wirklich, wer ich bin.“ Und sie müssen mühsam wieder lernen, ihre eigenen Bedürfnisse und Vorlieben wahrzunehmen.
So erging es beispielsweise auch Heidi Wildbold*. In ihrer Ehe verzichtete sie darauf, alte Freundschaften zu pflegen und führte bald den ganzen Haushalt alleine, obwohl sie wie ihr Ehemann auch einen Vollzeitjob ausser Haus hatte, sie zog Kleider, die ihm nicht gefielen, nicht mehr an und liess auf seinen Wunsch hin ihre Haare wachsen, obwohl sie sich so nicht gefiel. Oder Franz Moser*. Immer mehr richtete er sein Leben nach seiner Frau aus. Er machte fast keinen Sport mehr, er fuhr auch nicht mehr wie zuvor alljährlich mit den Kollegen in Skiurlaub. Doch wenn wir uns in unseren Beziehungen zu sehr aufopfern um geliebt zu werden, wird das Leben hohl und langweilig. Und nicht nur das: Es können sich auch regelrechte Aggressionen auf den Partner entwickeln.
„Als ich erstmals mit der Idee konfrontiert wurde, dass das Streben nach Liebe unser Verhalten steure, hatte ich das Gefühl, bei mir sei dies überhaupt nicht der Fall“, berichtet Esther Kowolski*, eine engagierte Frau um die 45 im Rückblick auf eine Lebenskrise: „Doch je länger ich mich damit befasste, desto klarer sah ich, wie ich zum Beispiel meine Meinung verschwieg, als sie anders war als die der anderen. Wie ich Hilfsbereitschaft einsetzte, um geliebt zu werden. Wie ich Zusagen machte, obwohl ich etwas nicht wirklich wollte. Ich verwendete erschreckend viel Zeit darauf, zu gefallen und sah, wie viel mentale Energie darum kreiste, was die anderen über mich dachten.“
Warum Mitmenschen Macht über uns gewinnen können
Es gibt Lebensphasen und Situationen, in denen die Sehnsucht nach Liebe besonders stark wird. Haben wir keinen liebevollen, gesunden Zugang zu uns selbst, richtet sich das Ego immer stärker nach aussen. Je mehr wir um Liebe und Anerkennung ringen, desto weniger sind wir in uns selbst anwesend. Gefühle von Verlassenheit, Einsamkeit und ein innerer Mangel, drängen uns in einen Teufelskreis in dem wir die innere Leere noch mehr durch Aufmerksamkeit von aussen zu kompensieren versuchen. Doch nichts ausserhalb von uns kann uns geben, was wir suchen.
Geraten wir in diesen Sog, geben wir unseren Mitmenschen viel Macht über uns. Reagieren sie positiv auf unsere Bemühungen, geht es uns einigermassen gut, reagieren sie abweisend, geht es uns schlecht. Vielleicht folgen darauf sogar schlaflose Nächte, in denen die Gedanken darum kreisen, wie wir uns besser hätten verhalten können. Wir sind völlig abhängig geworden von den Reaktionen anderer auf uns.
Ist in einer Ehe beispielsweise die Frau stets darum bemüht, es dem Mann recht zu machen, wird er sich auf Dauer mit ihr langweilen. Gedanklich ist sie dann nämlich so sehr mit ihm beschäftig, dass sie kaum mehr ein Eigenleben führt und uninteressant wird. Geschieht dies über längere Zeit, sucht der Mann oft ausserhalb der Ehe nach einem interessanten Gegenüber und „geht fremd“. Klammert sie sich in diesem Moment noch mehr an ihn, kann dies zur Trennung führen. Wirft die Krise sie auf sich selbst zurück, ist dies oft ein wichtiger Schritt zurück zu sich selbst und die Ehe hat noch eine Chance.
Wie man zu sich selbst zurückfindet
Ist es nicht erstaunlich, dass das, was ein Kind im Verlauf seiner Sozialisation mühsam und oft schmerzhaft erlernt – nämlich sich anzupassen, um geliebt zu werden – dem Erwachsenen später zum Verhängnis wird. Da gilt es dann wieder aufzudecken, was zugedeckt wurde, um die einschränkenden Mechanismen, die uns von uns selbst abschneiden und unsere Beziehungen der Lebendigkeit berauben, zu durchschauen und aufzulösen.
Alles, was uns im Leben widerfährt, interpretieren wir. Der Verstand ist unablässig dabei, Menschen und Situationen zu beurteilen. Wenn wir lernen, aus diesem Gedanken-Karussell auszusteigen und uns unserer Glaubenssätze bewusst werden, können wir beginnen, uns aus dem Netz unserer stressbeladenen Überzeugungen zu befreien, und zu uns zurück zu finden. Einer der effektivsten Wege, dies zu tun, besteht in der Selbstbefragungsmethode „The Work“ der amerikanischen Bestsellerautorin Byron Katie. Ihr Frageprozess besteht im Wesentlichen aus vier Fragen, die wir uns zu einer belastenden Situation stellen können.
Schon Sokrates, der griechische Philosoph aus der Antike wusste, dass letztlich jeder über sich selber am besten Bescheid weiss. Dass es aber zuweilen einer Hebamme bedarf, die dazu verhilft, dieses Wissen zu gebären. Die Fragen von „The Work“ sind wie diese Hebamme. Sie führen zu Einsichten über innere Zusammenhänge und zur Weisheit im eigenen Inneren. Sie zeigen sehr deutlich, was in uns geschieht, wenn wir uns einen negativen Gedanken immer wieder einprägen. Im letzten Schritt des Frageprozesses wird gezeigt, wie wir mit der Situation auch anders umgehen könnten.
Bei Menschen, die Bestätigung durch die Liebe anderer suchen, findet sich sehr häufig die Überzeugung:“ Ich muss seine/ihre Erwartung erfüllen.“ Sei es der Partner, der Chef, die Nachbarin, die Mutter – überall versucht man, es den anderen recht zu machen. Mit den Fragen von „The Work“ sieht die Selbstuntersuchung wie folgt aus: „Ich muss die Erwartung von X erfüllen.“
1. Ist das wahr? „Ja.“ „Ich muss die Erwartung von X erfüllen.“
2. Kannst du mit absoluter Sicherheit wissen, dass das wahr ist? „Nein.“
3. Wie reagierst du, was geschieht, wenn du das glaubst? „Ich muss die Erwartung von X erfüllen.“
Die Selbstbefragung ist eine Meditation. Der Verstand stellt die Fragen, man lässt sie ins Herz sinken und das Herz antworten. Frage 3 dient der Selbsterforschung. Wie reagiere ich, was geschieht, wenn ich glaube, dass ich die Erwartungen von X erfüllen muss? Es wird still, im Lauschen nach Innen. Antworten tauchen auf: „Ich richte mich nach ihm, stelle ihn über mich, ich bin angespannt, atme flach, bin unsicher, ob ich es richtig mache, da ist auch Angst. Ich lese ihm seine Wünsche von den Augen ab, bin sehr mit ihm beschäftigt, alles dreht sich um ihn. Ich bin nicht mehr bei mir, lebe mein Leben nicht mehr und befürchte, dass unsere Beziehung scheitern würde, wenn ich seinen Erwartungen nicht entspreche.“
Zu dieser dritten Frage gibt es unterstützende Unterfragen. Sie lauten: Bringt dieser Gedanke Frieden oder Stress in dein Leben? Welche Bilder über die Vergangenheit oder Zukunft siehst du, wenn du den Gedanken glaubst? Beschreibe die Gefühle, die in deinem Körper auftauchen, wenn du den Gedanken glaubst. Wie behandelst du dich selbst, wenn du diesen Gedanken glaubst? Was für Süchte/Zwänge beginnen sich zu manifestieren, wenn du diesen Gedanken glaubst (Alkohol, Kreditkarten, Essen, die Fernbedienung)? Was befürchtest du würde geschehen, wenn du diesen Gedanken nicht glauben würdest? Wo und in welchem Alter hattest du diesen Gedanken zum ersten Mal? Was bist du nicht in der Lage zu tun, wenn du diesen Gedanken glaubst?
Nach innen lauschen und auf Antworten warten
Frage 4 lautet: Wer wärst du ohne den Gedanken? Zumeist sind wir mit unserer Aufmerksamkeit so sehr bei den Anderen, dass es anfangs ungewohnt ist, auf diese Weise nach innen zu lauschen und auf die Antworten zu warten, besonders bei der vierten Frage. „Ohne den Gedanken, ‚ich muss seine Erwartungen erfüllen‘, wäre ich bei mir, er wäre nicht mehr so gross und ich nicht mehr so klein, ich wäre mir selbst wichtiger, wäre unabhängiger, ich könnte freier atmen. Alles fühlte sich liebevoller, weicher in mir an, die Schultern entspannten sich.“
Im letzten Schritt der Untersuchung wird die Überzeugung umgekehrt: „Ich muss seine Erwartungen erfüllen“, wird zu „Ich muss seine Erwartungen nicht erfüllen.“ Ist die Umkehrung ebenso wahr wie die ursprüngliche Überzeugung? Um den Geist weiter zu öffnen, werden zu jeder gefundenen Umkehrung drei konkrete Beispiele gesucht. Die Antworten könnten hier beispielsweise lauten: Ich kann überprüfen, ob ich seinen Erwartungen gerne nachkomme, ob ich es von Herzen tue, und wenn es nicht so ist, ist es ehrlicher, nein zu sagen. Die Ehe hat es überlebt, dass als ich letzten Sommer nicht mit ihm in Urlaub fuhr. Wir sind auch noch zusammen, obwohl ich ihn nicht zu den Jazzkonzerten begleite.
Eine andere Umkehrung lautet: „Ich muss meine eigenen Erwartungen erfüllen.“ Diese Umkehrung wirft die Fragende auf sich selber zurück. Was erwartet sie von sich selbst? Hält sie ein, was sie sich vornimmt? Steht sie für ihre Bedürfnisse und ihren Freiraum ein? Die konkreten Beispiele für diese Umkehrung könnten lauten: „Ich will meine Freundin weiterhin treffen, auch wenn es ihm nicht passt. Ich stehe dafür ein, dass er seinen Teil an der Hausarbeit macht. Ich geniesse weiterhin klassische Konzerte, auch wenn er diese Musik nicht mag.“
Dieser Prozess kann auch mit folgenden stressvollen Überzeugungen durchgeführt werden: Ich bin nicht liebenswert. Meine Meinung ist nicht gefragt. Ich muss seine Bedürfnisse erfüllen. Sie sollte weniger fordern. Er sollte mich unterstützen. Es ist ein wunderbarer Weg, bei dem wir unseren Stress dazu nutzen können, uns besser kennen zu lernen und zur Selbstliebe zurück zu finden.
Wir sollten uns klar machen: Wir verpassen die Erfüllung und Freiheit, die durch Selbstliebe entstehen, wenn wir die Liebe im Aussen suchen. Haben Sie Ihre Liste geschrieben, über das, was Sie von Ihren Eltern gebraucht hätten, oder was Sie sich von Ihren Geschwistern, dem Chef oder den Kindern wünschen? Übernehmen Sie Verantwortung und beginnen Sie sich selbst die lange vermisste Zuwendung zu geben. Wir können den Weg zur Selbstliebe noch beschleunigen, indem wir den involvierten Personen genau das zu geben beginnen, was wir uns von Ihnen gewünscht haben.
Wie wäre unser Leben ohne die Überzeugung: „Ich brauche die Liebe meiner Mitmenschen?“ Lauschen Sie nach innen und warten Sie, bis die Antwort aus Ihrem Herzen auftaucht. Dann kehren Sie den Gedanken um. „Ich brauche es mich zu lieben und meine Mitmenschen zu lieben.“ Welch ein Reichtum, wenn diese Quelle wieder fliesst.
*Namen von der Redaktion verändert.
Literatur: Byron Katie mit Michael Katz: Ich brauche deine Liebe – stimmt das?
Artikel erschienen in BIO Schweiz, Feb. 2011
Information: www.gruenbaum.ch
Colette Grünbaum, Schlosshofstrasse 48, CH-8400 Winterthur,
mobile: 079 743 36 80